Am 13. August 1961 unterbrach der West-Berliner Radiosender RIAS sein laufendes Programm mit einer Sondermeldung: „In den frühen Morgenstunden hat das Zonenregime begonnen, Ost-Berlin abzuriegeln … Besuche sind nicht mehr möglich.“ Noch ahnten die fassungslosen Hörer und Hörerinnen in West und Ost nicht, dass der Bau der Mauer die Menschen der beiden deutschen Staaten für 28 Jahre voneinander trennen sollte. DDR-Bürgern blieben fortan Reisen in den Westen verwehrt; ihren Urlaub verbrachten sie im Inland oder etwas später auch im sozialistischen Ausland. Zu einem der wenigen deutsch-deutschen Begegnungsorte wurde damals Ungarn. Am Balaton, dem Plattensee, trafen sich Familien und Freunde, die der Mauerbau getrennt hatte – so, wie Jenny aus Ost- und Jens aus West-Berlin, die beiden Protagonisten einer deutsch-deutschen Liebesgeschichte, aus der der folgende Auszug stammt.
Am 7. Mai 1966 hatte sich der zweiundzwanzigjährige Jens mit seinem alten VW-Käfer auf den Weg an den Plattensee gemacht.
Gegen Mittag war ich in Siófok am Südufer angekommen und hatte sofort mein Privatzimmer bezogen. Ich war aufgeregt: Am Abend würde ich Jenny treffen. Sie und ihre Freundin Nora hatten eine Reisegenehmigung für Ungarn und eine der begehrten Zusagen für einen Aufenthalt auf einem Campingplatz in Siófok bekommen. Nora und Jenny hatten sich an der Ost-Berliner Nationalgalerie während ihrer Ausbildung zu Restauratorinnen kennengelernt.
Im Trabi, der vollgepackt war mit Zelt, Spirituskocher und einer Unmenge von Konservendosen, reisten sie an. Ungarn war für DDR-Bürger ohne geschmuggeltes Westgeld ein teures Pflaster.

Fast zwei Jahre kannten wir uns, doch treffen konnten wir uns nicht allzu oft. Und noch nie hatten wir eine ganze Nacht zusammen sein können. Das Passierscheinabkommen erlaubte West-Berlinern den Tagesbesuch von im Ostsektor wohnenden Verwandten – im Besuchsantrag konnte ich meine Tante Gerda angeben – nur an wenigen Wochen im Jahr. Für zwei verliebte junge Menschen war die Situation nur schwer zu ertragen. Verabredet waren wir auf der Promenade vor dem Restaurant Etterem. Zehn gemeinsame Tage lagen vor uns, und ich konnte kaum erwarten, sie zu sehen.
Mit harter D-Mark war es mir gelungen, im Etterem einen der begehrten Tische auf der Seeterrasse reservieren zu lassen. Mit einem mehrgängigen Menü, das ich mir eigentlich gar nicht leisten konnte, wollte ich unser Wiedersehen zelebrieren und bei einer Flasche Wein mit ihr den Sonnenuntergang bewundern.
Als ich Jenny von weitem kommen sah, hielt ich es nicht länger aus: Ich rannte auf sie zu und presste sie so fest an mich, als ob ich sie vor dem Ertrinken retten wollte. Ich war der glücklichste Mensch der Welt. Doch aus meiner romantischen Idee wurde nichts. Essen, Wein und Sonnenuntergang waren mir plötzlich egal. Ich nahm Jenny an die Hand und eilte mit ihr zu dem Haus, in dem sich im ersten Stock mein Zimmer befand. Nach ein paar Minuten waren wir da, doch Jenny zögerte.
„Das geht nicht, Jens. Es ist verboten, Leute aus dem Westen zu besuchen.“
„Meinst du das wirklich ernst?“, fragte ich.
„Natürlich nicht, aber wir müssen vorsichtig sein“, sagte sie lachend und rannte mit mir die Treppe hoch. Ich öffnete die Zimmertür und sank auf mein Bett. Sie beugte sich zu mir und küsste mich. Ich zog sie zu mir herunter und hörte, wie ihr Herz klopfte …
Wir verlebten eine wunderschöne Zeit am Plattensee und waren sehr glücklich. Jennys Hobby war die Malerei. Wenn sie an ihrer kleinen Staffelei saß und den See oder das hüglige Land malte, konnte ich nicht aufhören, sie anzusehen und immer wieder zu fotografieren. Jennys Aquarelle gaben genau die Stimmung wieder, die ich empfand, wenn ich daran dachte, dass wir schon bald wieder voneinander Abschied nehmen mussten. In den Bildern steckte etwas Melancholisches, etwas, das das Ende unseres Sommers ahnen ließ.
Nora gönnte uns unser Zusammensein ohne Missgunst oder Eifersucht. Sie hatte sich mit einem jungen ungarischen Rockmusiker angefreundet und war sicher ganz froh, das Zelt nachts für sich allein zu haben. Jenny schlief jede Nacht bei mir. Meine Wirtin drückte beide Augen zu, nachdem ich ihr einen Hunderter extra gegeben hatte.
Den letzten Abend verbrachten Jenny, Nora und ich in einer Weinstube bei einer Flasche Tokajer. Zum Feiern war uns aber nicht zumute. Wehmütig schauten wir in unsere Gläser. Nora unterbrach schließlich unser Schweigen:
„Wie soll es denn mit euch weitergehen?“, fragte sie leise.
Jenny antwortete flüsternd. Sie wusste, dass der Arm der Stasi bis nach Ungarn reichte. Durchaus möglich, dass man uns bereits beobachtete.
„Wir lieben uns und wollen zusammenleben. Jetzt, und nicht erst, wenn ich als Rentnerin vielleicht in den Westen reisen darf. Und dass Jens in die DDR übersiedelt, nein, das möchte ich ihm nicht zumuten.“
„Das verstehe ich, Jenny“, sagte Nora. „Du könntest einen Ausreiseantrag stellen.“
Jenny schüttelte resigniert den Kopf.
„Der würde mit Sicherheit abgelehnt werden. Und dann Gnade mir Gott. Meinen Ausbildungsplatz in der Nationalgalerie wäre ich los. Ab zur Bewährung in die Produktion, könnte es dann heißen. Kartoffeln schälen oder Maschinen putzen.“
„Es gibt für uns keine Wahl, Nora“, fügte ich leise hinzu. „Ich werde dafür sorgen, dass Jenny aus der DDR herauskommt.“
Natürlich hatte ich mit Jenny bereits darüber gesprochen. Mein Freund Rüdiger kannte an der medizinischen Fakultät der Uni einen Kommilitonen, der wiederum jemanden kannte, der Kontakt zu einer studentischen Fluchthilfeorganisation hatte. Ich würde Rüdiger bitten, für mich den Türöffner zu spielen.
Jenny und ich hielten es für besser, wenn sie in dieser letzten Nacht nicht mit mir, sondern mit Nora im Zelt verbringen würde. Wir wollten uns den Abschied nicht noch schwerer machen. Wenn ich morgen früh aufwachte, wären die beiden schon unterwegs in Richtung Berlin.
Ich lag noch lange wach. Meine Gedanken kreisten um immer die gleiche Frage: Was würde aus unserer Liebe werden, wenn unser Traum von einem Zusammenleben in Freiheit platzen sollte?
Nein, Jennys Flucht wird gelingen, sagte ich mir immer wieder. Ich ahnte nicht, wie sehr ich mich irren sollte …
Aus: Horst Kleinert, Zwischen zwei Welten, in: Operation Lazarus (Erzählungen), Thurm-Verlag, Lüneburg 2022
Beliebt beim Adel, beim Großbürgertum und bei den „werktätigen Massen“
Bereits im späten 19. Jahrhundert war insbesondere das Nordufer des Balaton mit seinen Heilbädern, Sanatorien und Thermalquellen bevorzugtes Erholungsziel des ungarischen Adels und des wohlhabenden Bürgertums. Einige imposante Villen und Paläste inmitten großzügiger Parks sind aus dieser glanzvollen Epoche erhalten geblieben und zeugen „vom Traum und der Poesie“ der Seelandschaft, wie in einem Reisebericht aus jener Zeit zu lesen ist.

Mitte der 1950er Jahre war es mit dem mondänen Gesellschaftsleben am Balaton aber vorbei. Die kommunistische Partei Ungarns wollte aus der vormals exklusiven Region ein Urlaubsgebiet für die werktätige Bevölkerung machen und ließ rund um den See Campingplätze, Ferienheime und einfache Hotels errichten. Der Massentourismus begann die einstmals ruhigen und eleganten Orte zu überrollen.
Der Balaton, das „Mallorca der DDR-Bürger“
Ende der 1960er Jahre stammten bereits über dreißig Prozent der Urlauber aus Ostdeutschland, und auch immer mehr Bundesbürger reisten an. Während die Westdeutschen in Ungarn billig Urlaub machen konnten, mussten die meisten DDR-Bürger mangels Devisen mit Bier, Büchsen und Tauschware im Auto anreisen. Sie waren im „sozialistischen Bruderland“ Touristen zweiter Klasse und bekamen dies auch oft zu spüren. Ähnlich war für die Urlauber aus der DDR die Situation in Rumänien und Bulgarien mit ihren goldenen Sandstränden am Schwarzen Meer. Auch hier brauchte man zunächst viel Glück und Geduld, um alle erforderlichen Genehmigungen und Papiere zusammenzubekommen, und genügend Devisen. Der Umtausch von Mark in die Landeswährung war limitiert, und der Kurs war miserabel. Westgeld – falls vorhanden – zu schmuggeln war auch keine Lösung. Wurde man dabei erwischt, hätte es wohl das Ende aller Reiseträume bedeutet.
Auch heute sind die Deutschen aus Ost und West die größte Gruppe unter den ausländischen Balaton-Touristen. Die achtzig km lange, bis zu zwölf km breite und im Durchschnitt nur drei Meter tiefe „Badewanne Ungarns“ garantiert für jung und alt angenehm warme Wassertemperaturen und Badespaß von Mai bis September.

Reisen damals-Lesetipp: „Zwischen zwei Welten“ (Erzählung in „Operation Lazarus“) Fünf Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 scheiterten die Verhandlungen zwischen West-Berlin und der DDR über ein Passierscheinabkommen. Vom 5. Juni 1966 bis zum 3. Juni 1972 waren Besuche des Ostteils der Stadt nur noch in dringenden Härtefällen möglich. Doch davon ahnten die beiden Protagonisten der Erzählung bei ihrem Treffen am Balaton nichts. Ein junges Paar, für immer getrennt durch eine unüberwindbare Grenze? Doch manchmal schlägt das Leben seltsame Kapriolen … Horst Kleinert: Operation Lazarus (Erzählungen), Thurm-Verlag, Lüneburg (2022), 208 Seiten www.thurm-verlag.de

Bildquellen
- Ungarn2: Derbrauni via Wikimedia Commons | CC BY 4.0 International
- Ungarn3: FOTO:Fortepan — ID 3678: Adományozó/Donor via Wikimedia Commons | Public Domain Mark 1.0
- Ungarn4: Christo via Wikimedia Commons | CC BY-SA 4.0 International
- Ungarn5: Thurm Verlag | All Rights Reserved
- Ungarn1: Grand Parc - Bordeaux, France from France via Wikimedia Commons | CC BY 2.0 Deed




Lieber Horst,
vielen Dank für die Erinnerungen an den Plattensee.Allerdings hatte ich dort nichts mit DDR-Problemen zu tun,sondern konnte mich an schöner Landschaft,gutem Essen ,Trinken sowie angenehmer Gesellschaft aus EU-Ländern erfreuen.
Ich würde mich freuen, wenn wir ,vielleicht noch in diesem Monat wieder ein fröhliches Beisammensein einrichten könnten. Wäre das etwas für Dich ?
Herzlichen Gruß
Dieter