Erste elektrische Straßenbahn in Berlin

Die Kolonialausstellung von 1896 in Berlin: Afrika und die Südsee vor der Haustür

Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die dreißiger Jahre fanden in Deutschland über vierhundert Völkerschauen und Kolonialausstellungen statt. Zur Schau gestellt wurden hauptsächlich Menschen aus Schwarzafrika und dem Südpazifik in vermeintlich authentischer Umgebung. Die größte, aber nicht die erste dieser Veranstaltungen war die Deutsche Kolonialausstellung 1896 in Berlin. Das Foto zeigt die ersten elektrischen Straßenbahnen Berlins, die zwischen der Berliner Innenstadt und dem Ausstellungsgelände in Treptow auf drei Strecken verkehrten.

Auf einem abgeteilten Areal an den Ufern des heute noch vorhandenen großen Karpfenteichs des Treptower Parks sollte mit dem Nachbau afrikanischer und südpazifischer Dörfer und über hundert „Eingeborenen“ ein Eindruck von der Lebensweise in den Kolonien des Deutschen Reichs vermittelt werden. Gleichzeitig galt es, die deutsche Bevölkerung vom vermeintlichen Segen der Kolonialisierung für das Reich und die Kolonien zu überzeugen.

Ein Rundgang durch das Südseedorf am Ufer des Karpfenteichs im Jahr 1896

Der junge Max, Sohn eines deutschen Pflanzers und einer Polynesierin, flieht aufgrund einer Intrige von Neuguinea in die Heimat seines verschwundenen Vaters. In Berlin findet er Unterschlupf bei einer Gruppe von Melanesiern, die zu den auf der Kolonialausstellung zur Schau gestellten Afrikanern und Südseeinsulanern gehören. (Aus der Erzählung „Der Samoaner“)

Ein Betreuer aus dem Kolonialamt hatte Max, der sich jetzt Taoluna nannte, und die sieben Melanesiern mit dem Ablauf eines normalen Ausstellungstags vertraut gemacht und ihnen noch einen Rat mit auf den Weg gegeben: „Lasst euch beim Kochen, Tanzen und Fischen von den vielen Besuchern nicht stören. Seid immer freundlich und geduldig. Zeigt, dass ihr das Geld und die Mühe, die der Kaiser in die Entwicklung der Kolonien gesteckt hat, wert seid.“

Danach führte er die Gruppe durch ihr „Südseedorf“. Zwischen dem dichten Grün von Bäumen, Büschen und künstlichen Palmen hatten die Veranstalter am Ufer des Karpfenteichs ein beeindruckendes Ensemble verschiedener Haustypen Neuguineas hingestellt: ein Langhaus mit einem an den seitlichen Enden hochragenden zugespitzten Dachfirst, ein Ahnen- oder Totenhaus, dessen mit Palmenblättern bedecktes Dach fast bis zum Boden reichte, ein im Wipfel einer Eiche errichtetes Baumhaus, zwei im Wasser stehende Pfahlbauten und ein paar Hütten, in denen sich neben Auslegerbooten und Kanus und den für die Jagd auf Fische benötigten Netzen und Speeren auch Schleudern und Keulen befanden. Mit der Bemalung der Giebel, den grotesken Holzschnitzereien und den im Innern der Häuser angebrachten Masken, Tier- und sogar Menschenschädeln wirkte die Echtheit des Dorfs fast unheimlich.

In der Zeit, die bis zur Ausstellungseröffnung verblieb, übten die Melanesier mit Max verschiedene Kriegstänze ein. Die sieben Landarbeiter und Handwerker aus einer Missionsstation in Neu-pommern verwandelten ihn dazu in einen „echten“ Papua-Krieger: Um seine Hüften baumelte ein rotbraunes Tuch, das von einem mit Perlen bestickten Gürtel gehalten wurde. Den Hals und den nackten Oberkörper schmückten prächtige Muschelketten, Arme und Beine mehrere Reifen. Auf dem Kopf trug er eine Art Krone aus Vogelknochen, darüber einen Federbüschel. Mit seinem mit schwarzen und roten Streifen bemalten Gesicht, der Keule in der einen und dem Speer in der anderen Hand sah er in der Tat furchterregend aus, doch als Max sich in einem Spiegel betrachtete, musste er lauthals lachen. Die Melanesier ermahnten ihn, bei der Tanzvorführung ernst zu bleiben: „Allein dein Blick muss bei den weißen Herrschaften Angst und Schrecken verbreiten. Also reiße Mund und Augen groß auf!“

Was wohl Marie sagen würde, wenn sie ihn so sehen könnte, dachte Max. Im selben Moment spürte er wieder den bitteren Schmerz in seinem Herzen. Marie – er würde sie nie vergessen können.
Aus: Horst Kleinert: Der Samoaner, in: Operation Lazarus (Erzählungen), Thurm-Verlag (2022)

Foto Versammlungshaus Neuguinea
Am Ufer des Karpfenteichs in Berlin-Treptow: Versammlungshaus aus Neuguinea

„Virtual Reality“ im 19. Jahrhundert

Um den damaligen Hype um die Kolonialausstellung nachzuvollziehen, muss man sich in die Situation eines Besuchers versetzen, der fremde Kontinente noch nicht aus dem Kino, dem Fernsehen oder von Fernreisen kennen konnte. Wie faszinierend war es da, in eine exotische Welt live eintauchen zu können – mit der Straßenbahn weniger als eine Stunde von der Berliner City entfernt!

Gemälde von Rudolf Hellgrewe mit afrikanischem Dorf
Dorf bei Bismarckburg, Togo (ca. 1908). Gemälde von Rudolf Hellgrewe (1860 bis 1935).
Togolesen bei der häuslichen Arbeit vor einer Hütte
Vor den Hütten am Karpfenteich: Togolesen bei häuslichen Arbeiten

Die Kolonialausstellung war Teil der Berliner Gewerbeausstellung 1896, die fast schon den Charakter einer Weltausstellung hatte: ein Mega-Event mit 7,4 Millionen Besuchern und über viertausend Ausstellern. Besondere Attraktion waren, neben den Exponaten aus Industrie und Verkehr, Handel und Gewerbe, der Nachbau von zwei historischen Stadtvierteln („Alt-Berlin“ und „Kairo“), eine dreißig Meter hohe Nachbildung einer ägyptischen Pyramide, ein Alpenpanorama und ein Arktispanorama (mit Eskimos und lebenden Eisbären) und ein Vergnügungspark. Eine Art Disneyland für jung und alt!

Nachbau von Moschee, Pyramide, Suk auf der Kolonialausstellung in Berlin
Auf der Gewerbeausstellung: perfekter Nachbau von Moschee, Pyramide, Suk (Markt)

Perfektioniert wurde die Simulation touristischer Erlebnisse vier Jahre später auf der Pariser Weltausstellung 1900: ein „Flug“ mit einem Ballon, um dessen Korb herum ein 360-Grad-Film projiziert wurde, eine „Fahrt“ mit der Transsibirischen Eisenbahn im Luxuswagen, an dessen Fenstern auf-gemalte Landschaften vorbeigezogen wurden oder zum Beispiel eine „Schiffsreise“ auf einem Dampfer (inklusive Seegang und rauchender Schornsteine) entlang von gemalten Meer- und Hafenszenerien. Und selbstverständlich wurde auch in Paris auf eine Kolonialausstellung nicht verzichtet, die aber nicht die Dimensionen der Berliner Ausstellung von 1896 hatte.

Wer den Bereich der Gewerbeausstellung verließ und die Kolonialausstellung durch eine kunstvoll verzierte Eingangspforte im Stil eines Holzhauses aus Neuguinea betrat, fühlte sich in einer anderen Welt. Die Männer und Frauen aus Afrika und der Südsee, die den Besuchern „dörfliches Treiben“ – Kochen, Tanzen, Waffenspiele, handwerkliche Tätigkeiten – vorzuspielen hatten, wurden bestaunt und angestarrt. Ein inszeniertes Spektakel, das von den dunklen Seiten der kolonialen Wirklichkeit nichts ahnen ließ.

Dorf in Neuguinea. Gemälde von Rudolf Hellgrewe
Dorf in Neuguinea. Gemälde von Rudolf Hellgrewe (1860 bis 1935)

Im September und Oktober 1896 traten die meisten der 106 Afrikaner und Südseeinsulaner ihre Heimreise an. Etwa zwanzig von ihnen blieben in Deutschland. Einige begannen eine Schulausbildung oder Handwerkslehre, andere wollten die deutsche Sprache und Kultur studieren und Kontakte knüpfen, um die Lebensbedingungen in ihrer Heimat verbessern zu können.

Ein menschenverachtendes Spektakel mit wissenschaftlichem Anstrich

Für die fremden „Gäste“ war es nicht immer ganz einfach, sich ihre Würde zu bewahren. Insbesondere die Gruppe der Hereros und Namas aus Deutsch-Südwestafrika empfanden die ihnen auf der Ausstellung zugedachten Rollen als Ausstellungs- und Studienobjekte diskriminierend. So mussten in ihrer Heimat als Lehrer und Übersetzer tätige Hereros auf der Ausstellung als Fuhrleute die Ochsen- und Pferdegespanne der „Hottentotten“ lenken. Und von den sog. Suaheli, oft islamische Händler oder Handwerker aus küstennahen Siedlungen Deutsch-Ostafrikas, wurde verlangt, folkloristische Kriegsspiele und rituelle Tänze vorzuführen. (Trotz angebotener Geldbeträge waren einige Afrikaner nicht bereit, „physioanthropologische Kopf- und Körpervermessungen“ an sich vornehmen zu lassen.)

Viele Ausstellungsbesucher störte das alles nicht. Sie fühlten sich, nun ja, wie heutige Touristen auf einer „Erlebnisreise“. Zitat aus einem Katalog eines Studienreiseveranstalters (2017): „Wir besuchen heute das Living Culturel Center, das uns das ursprüngliche Leben der Massai zeigt (mit Vorführung traditioneller Tänze und Gesänge). Gern lassen sich die freundlichen Dorfbewohner von uns in ihren farbenprächtigen Trachten fotografieren.“

Kinder und Frau in Afrika
Dass sich vor solchen Fotomotiven oft bis zu zwei Dutzend Touristen gedrängelt haben, zeigen die Bilder nicht
Reisen damals-Tipp: Ausstellungen zum Thema Kolonialgeschichte

Humboldt Forum (Berliner Schloss)
Das Ethnologische Museum im Humboldt Forum zeigt rund 500.000 ethnografische, archäologische und kulturhistorische Objekte aus Afrika, Asien, Amerika und Australien, ergänzt durch Tonaufnahmen, Fotodokumente und Filme. Die unklare Herkunft vieler Objekte (Raub, Schenkung oder Kauf) und die bisherige Darstellung des kolonialen Kontexts der Sammlungen hat zu einer Diskussion geführt, die noch nicht abgeschlossen ist.
www.smb.museum

Museum Treptow-Köpenick
Die Dauerausstellung „zurückgeschaut – looking back“ widmet sich der Geschichte und den Nachwirkungen der Ersten Deutschen Kolonialausstellung. Im Fokus stehen die 106 Kinder, Frauen und Männer aus Afrika und Ozeanien, ihre Biographien und ihr Widerstand. Zudem werden die Struktur der Kolonialausstellung und deren historischer Kontext verdeutlicht.
www.berlin.de/museum-treptow-koepenick

Dokumentation
Horst Kleinert: „Mit der Tram in die Kolonien des Kaisers. Die Gewerbe-und Kolonialausstellung von 1896 in Berlin“, erschienen im Thurm Verlag, Lüneburg (2019. Das Buch dokumentiert die Kolonialausstellung in Wort und Bild.)

Bildquellen

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