Postkarte mit Orientexpress

Der Orient-Express: Die erste Fahrt nach Konstantinopel

Paris, 4. Oktober 1883: Seit dem frühen Nachmittag strömen die Menschen zum Bahnhof Gare de l’Est. Sie wollen den sagenhaften Zug in Augenschein nehmen, für den der belgische Bahnunternehmer Georges Nagelmackers so lange gekämpft hat – den Orient-Express. Das „Luxusschiff zu Land“, wie es in den Zeitungen hieß, würde heute Abend zu seiner Eröffnungsfahrt nach Konstantinopel starten. Der Andrang der Schaulustigen ist so groß, dass die Menge nur schubweise auf den Bahnsteig gelassen werden kann. Die es endlich geschafft haben, sind beeindruckt. Die Wagen sind aus dunkelbraun schimmerndem Teakholz gefertigt; breite Fenster erlauben den Blick ins durch Gaslichtlampen erhellte Innere. Schneeweiße Tischtücher und Servietten, glitzernde Kristallgläser und Silberbestecke lassen vermuten, dass die Bezeichnung „Grandhotel auf Rädern“ wohl nicht übertrieben ist. Was für ein Unterschied zu den schmutziggrauen Waggons mit abblätternder Farbe, die auf dem Nebengleis stehen!

Plakat Orientexpress
Plakat von 1891

Über den Fenstern prangt in goldglänzenden Buchstaben die Aufschrift Compagnie Internationale des Wagons-Lits – der Name von Nagelmackers Eisenbahngesellschaft, kurz CIWL.  Der Zug, jetzt kurz vor der Abfahrt bereits unter Dampf, besteht aus einer englischen Buddicom-Lokomotive nebst Tender, einem Postwagen, zwei Schlafwagen für je zwanzig Fahrgäste, einem Speisewagen und einem Vorratswagen mit Unmengen von Champagner, Wein, Likör und Cognac. Stangeneis soll die Delikatessen, die unterwegs nicht erhältlich sein würden, frischhalten. Von außen nicht zu erkennen ist, dass im Orient-Express die neueste Bahntechnologie steckt: die Westinghouse-Bremsluftleitung ermöglicht schnelles, ruckfreies Abbremsen, und die Schlaf- und Speisewagen sind mit Drehgestellen ausgerüstet, die die Laufruhe erheblich verbessern. Zum Ärger des in einer eleganten Uniform gekleideten Zugführers verzögern die vielen Toasts und Reden der Ehrengäste aus Politik und Wirtschaft die planmäßige Abfahrt um zwanzig Minuten. Aber dann, um 6 Uhr 20, ist es so weit: Die 24 Passagiere gehen an Bord, und die mächtige Lok setzt sich unter dem Jubel der Zurückbleibenden in Bewegung. Erstmals soll eine Eisenbahn quer durch Europa fahren und nach dreieinhalb Tagen im über dreitausend Kilometer entfernten Konstantinopel ankommen. Das „Abenteuer Orient-Express“ hat begonnen – und wird auch hundert Jahre später noch nicht vorbei sein.

Streckennetz Orientexpress
Streckennetz 1883 bis 1914

Der luxuriöseste Zug seiner Zeit

Zur Premierenfahrt hatte Nagelmackers Direktoren der beteiligten Bahngesellschaften und Banken, Diplomaten der durchfahrenden Staaten und auch renommierte Journalisten eingeladen. Ein geschickter Schachzug; nicht zuletzt die fast euphorische Berichterstattung in den europäischen Zeitungen trug wesentlich dazu bei, dass der Orient-Express schon ein halbes Jahr später regelmäßig verkehrte. Die Presseleute waren voll des Lobs über die verschwenderische Pracht der Innenausstattung der Wagen. Mahagonitäfelungen, goldene Gepäcknetze und vergoldete Metallblumen, geblümte Damastvorhänge, barocke Deckenmalereien, dicke Teppiche – überall Plüsch, Pomp und Prunk, wie es dem Geschmack des Victorianischen Zeitalters entsprach. Im vorderen Teil des ersten echten Speisewagens Europas („wagon-salon-restaurant“) befand sich ein Rauchsalon für Herren, eingerichtet wie ein ehrwürdiger Londoner Klub, im hinteren Teil ein Salon für die Damen mit einem Chaiselongue. Frauen waren bei dieser ersten Fahrt allerdings nicht an Bord, angeblich weil die Fahrt durch die unruhige Balkanregion zu gefährlich sei. Ganz unberechtigt war diese Vorsicht nicht: Im Mai 1891 wurde der Orient-Express in Bulgarien, hundert Kilometer westlich von Konstantinopel, von Banditen zum Entgleisen gebracht. Die Passagiere wurden beraubt, einige entführt und erst nach mehreren Tagen gegen horrendes Lösegeld aus ihrer Geiselhaft entlassen. Ernsthafte Verletzungen gab es bei dem Überfall glücklicherweise nicht.

Broschüre Orientexpress
Titel einer CIWL-Broschüre von 1898

Wenn um acht Uhr die Passagiere von den Schaffnern zum Abendessen gebeten wurden, waren die Zweier- und Vierertische bereits mit silbernem Besteck, feinstem Porzellan und Gläsern aus Baccarat-Kristall eingedeckt. Am Ende des Speisewagens befand sich eine winzige Küche, in der der Küchenchef und seine sechs Helfer das Kunststück fertigbrachten, Menüs mit bis zu zehn (!) Gängen frisch zuzubereiten. (Gegessen und getrunken wurde von der wohlhabenden Schicht in jenen Tagen unglaublich viel.) Serviert wurden die Mahlzeiten von Kellnern, die gepuderte Perücken, Frack, Kniehosen, Silberstrümpfe und Schnallenschuhe trugen. Nach Beschwerden über in die Suppe gefallenen Puder ließ man allerdings die Perücken weg. Die Polstersitze in den Zwei-Bett-Abteilen der beiden Schlafwagen verwandelten sich abends in bequeme Federbetten. (Das Zugpersonal schlief im Speisewagen in quergespannten Hängematten.) Noch hatten die Abteile keine separaten Waschkabinen, sondern nur ein Waschbecken, unter dem sich in einem Schränkchen ein Nachttopf befand. Toiletten und Waschraum lagen am Ende der Schlafwagen. Nach jeder Benutzung machte ein Schaffner die Örtlichkeit sauber.

Walzerklänge und Csárdásmelodien

Der Orient-Express erreichte Straßburg vor Tagesanbruch und fuhr weiter über Stuttgart und München nach Wien, wo er spätabends eintraf und von einem großen Empfangskomitee in Paradeuniform und einer Kapelle der kaiserlichen Garde begrüßt wurde. Zu den Klängen von „An der schönen blauen Donau“ betraten die Passagiere das Bahnhofsrestaurant und ließen sich mit einem Souper nebst reichlich Champagner und Tokaier verwöhnen. Noch in der Nacht setzte der Orient-Express seine Fahrt nach dem 250 Kilometer entfernten Budapest fort. Hier vollzog sich die Begrüßungszeremonie in ähnlicher Form wie in Wien – nur dass diesmal eine Csárdáskapelle spielte.  Dann ging es durch die ungarische Tiefebene in Richtung Bukarest. Bevor der Zug die auch als „Klein-Paris“ bekannte Hauptstadt Rumäniens erreichte, folgte die Reisegruppe der Einladung des rumänischen Königs Carol I., eines Eisenbahnfans, und seiner Gemahlin in ihr neues Schloss im Kurbad Sinai. (Die pseudoromantische Architektur des Baus wirkte auf die Reisenden, als würde hier Graf Dracula höchst persönlich wohnen.) Sieben Stunden nach der Abfahrt aus Bukarest war es mit der luxuriösen Bahnreise vorbei. Die Passagiere mussten ihr „Grandhotel auf Schienen“ verlassen und in einer kleinen Dampffähre die Donau zum bulgarischen Ufer überqueren. Mit einem einfachen Lokalzug fuhren sie weiter zur Hafenstadt Warna am Schwarzen Meer. Der Anblick der zerstörten Dörfer und der vielen Elendshütten war deprimierend. Vor fünf Jahren hatte hier der russisch-türkische Krieg das Land verwüstet und der Bevölkerung Tod und Armut gebracht .

Zeichnung vom Pera Palace Hotel
Pera Palace Hotel

„Elf wunderbare Tage“

Die Überfahrt auf einem schlingernden und vibrierenden Dampfschiff nach Konstantinopel dauerte vierzehn Stunden – für die verwöhnten Gäste eine einzige Tortur. Als der Dampfer schließlich in den Bosporus einfuhr und das Goldene Horn erreichte, standen alle Passagiere an Deck und bewunderten die Kuppeln der Kirchen und Moscheen Konstantinopels. Die Gruppe wurde vom belgischen Botschafter und hohen Würdenträgern des Osmanischen Reichs begrüßt und in einem der besseren Hotels untergebracht. Die Stadt hatte in dieser Hinsicht allerdings noch nicht allzu viel zu bieten. Ende der 1880er Jahre ließ die CIWL deshalb im europäischen Viertel für die Orient-Express-Klientel ein Nobelhotel bauen, das 1892 als Pera Palace eröffnet wurde. Das Haus mit Blick auf den Bosporus, in dem unter anderem Staatsoberhäupter, Wirtschaftskapitäne und Monarchen abstiegen, ist mit seiner Fassade im Neo-Rokoko bis heute eines der führenden Hotels Istanbuls.

Innenansicht Pera Palace Hotel
Das Pera Palace, Glanz und Glamour noch heute (2020)

Das Besichtigungsprogramm am folgenden Tag – Hagia Sophia, Blaue Moschee, Topkapi-Serail und Basar – unterschied sich kaum von Sightseeing-Touren im heutigen Istanbul. Auch ein Auftritt von Bauchtänzerinnen wurde von Nagelmackers für die Herrenrunde organisiert. Auf der ganzen Fahrt hatte sich Georges Nagelmackers als perfekter Reiseleiter erwiesen, der mit Tatkraft und Improvisationstalent auch unvorhergesehene Probleme zur Zufriedenheit aller lösen konnte.

Am 13. Oktober 1883 startete der Orient-Express zur Rückreise nach Paris, die ohne besondere Ereignisse verlief. Einer der Journalisten vermerkte in seinem Tagebuch „Die elf wunderbaren Tage einer einzigartigen und historischen Reise waren vorbei.“

Die Globalisierung des Bahnverkehrs

Noch war es nicht möglich gewesen, Konstantinopel ohne Seetransport auf dem Landweg zu erreichen. Erst als 1889 in Bulgarien der dazu erforderliche Streckenabschnitt endlich fertiggestellt war, konnte der Orient-Express die ganze Strecke Paris – Wien – Budapest – Belgrad – Sofia – Konstantinopel durchfahren, ohne dass die Passagiere ihre Luxuswaggons wechseln mussten.

Emblem
CIWL-Emblem des Teak-Speisewagens WR 402 / Orient-Express

1908, fünfundzwanzig Jahre nach der ersten Fahrt des Orient-Express am 4. Oktober 1883, verkehrten tausend Wagen der Compagnie nicht nur in Europa, sondern auch in Nahost, Asien und Nordafrika. George Nagelmackers erlebte dieses Jubiläum nicht mehr. Er starb am 10. Juli 1908 im Alter von nur 63 Jahren in Belgien an einem Herzinfarkt. Die Erfolgsgeschichte der CIWL war aber noch lange nicht zu Ende.

Reisen damals-Lesetipp: Abenteuer Orient-Express. Geschichte und Geschichten
Der Verfasser E. H. Cookridge, der selbst ein halbes Jahrhundert lang Fahrgast des Orient-Express war, beschreibt anschaulich und spannend die Anfänge, die Glanzzeit und den Niedergang dieses einmaligen Luxuszuges. Er erklärt, warum der Orient-Express zum Mythos wurde, und erläutert auch die politischen Hintergründe und Hemmnisse, die den Siegeszug des Orient-Express nicht aufhalten konnten. 318 Seiten, Taschenbuch, Wilhelm Heyne Verlag München, 1983. (Nur im Antiquariat erhältlich.)

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert