Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs verkehrten die Luxuszüge der Compagnie Internationale des Wagons-Lits (CIWL) nahezu in ganz Europa. Längst stand der Name Orient-Express nicht mehr allein für eine schnelle direkte Verbindung von Paris nach Konstantinopel, sondern für ein durch Flügel- und Zubringerzüge, Kurswagen und Kernstrecken geknüpftes engmaschiges europäisches Eisenbahnnetz. Dazu hatte die Fusion der Compagnie mit der britischen Pullman Car Company beigetragen – und eine technische Meisterleistung: 1906 war der Schweizer Simplontunnel für den Verkehr nach Italien geöffnet worden, der mit knapp 20 Kilometern bis Ende der siebziger Jahre längste Gebirgstunnel der Welt! Die CIWL ergriff unverzüglich diese Gelegenheit für eine äußerst schnelle Verbindung zwischen Paris und Venedig über Lausanne und Mailand. 1912 wurde der Simplon-Orient-Express bis Triest verlängert. Außerdem wurden die Züge immer komfortabler. Die neuen Schlafwagen verfügten über Toiletten zwischen je zwei Schlafabteilen, einige Einzelabteile hatten sogar Duschen, und die Speisewagen waren durch speziell gefederte Fahrgestelle laufruhiger als vorher.
Nobelherbergen an den Zielorten
Auf den Strecken der Transsibirischen Eisenbahn fuhren dank der Konzessionierung durch den Zaren die Wagen der Compagnie bis nach Wladiwostok. Von Irkutsk wurde eine Verbindung nach Peking und zum südkoreanischen Hafen Pusan angeboten. Eine weitere Neuerung war der Anatolische Express, der im Anschluss an den Orient-Express Kleinasien durchquerte. Und schon um 1900 fuhr ein CIWL-Zug von Port Said nach Kairo, der später als Kairo-Luxor-Express den „Grand Tour“-Tourismus der bürgerlichen Elite enorm beflügelte.
Über ein Dutzend Grandhotels der CIWL an den Zielorten des Orient-Express gewährleisteten den verwöhnten Passagieren eine standesgemäße Unterkunft. Die wohl berühmteste Nobelherberge darunter ist das Pera Palace im heutigen Istanbul in der Nähe vom ebenso legendären Bahnhof Sirkeci. Im Pera schrieb Agatha Christie ihren Roman „Mord im Orient-Express“. (Dass im Orient-Express jemals ein Mord passiert sein soll, gilt übrigens als ausgeschlossen.) Die Besichtigung des historischen Bahnhofs (mit einer kleinen Orient-Express-Ausstellung) und des Hotels erfreut sich bei Touristen bis heute großer Beliebtheit.
Nach dem Chaos des Ersten Weltkriegs nahm der Orient Express den Betrieb wieder auf, wobei es Änderungen der Streckenführung gab. Deutschland lehnte es wegen der Besetzung des Ruhrgebiets durch die Siegermächte ab, den Zug auf dem Reichsgebiet in Betrieb zu halten. Aus diesem Grund wurde eine neue Trasse gewählt: über Basel und Zürich in der Schweiz und durch den Arlbergtunnel nach Österreich. Der Arlberg-Orient-Express erwies sich wie schon der Simplon-Orient-Express als so erfolgreich, dass die Strecke über Deutschland zunehmend an Bedeutung verlor. Trotz wachsender politischer Spannungen in Europa und der Folgen der Weltwirtschaftskrise beförderte die CILW zu Beginn der dreißiger Jahre mehr Passagiere schneller und komfortabler als zuvor.
Anschluss nach Damaskus, Kairo, Bagdad und Bombay
Ab 1930 verband der Taurus-Express der CIWL die Türkei, den Vorderen Orient und Indien. Agatha Christie fuhr mehrfach von Großbritannien mit dem Orient-Express nach Istanbul und mit dem Taurus-Express weiter nach Syrien, wo ihr Mann Ausgrabungen leitete.
Während des Zweiten Weltkriegs wurde der Orient-Express eingestellt und erst nach Kriegsende wieder in Betrieb genommen. Für den Orient-Express ging die große, glanzvolle Zeit allerdings zu Ende – nicht plötzlich, aber unaufhaltsam. Der Bau moderner Fernstraßen, der unaufhaltsame Siegeszug des Flugverkehrs und nicht zuletzt die politische Spaltung Europas machten die Verbindungen für die reisende Oberschicht zu langsam, zu unkomfortabel und zu kompliziert. Nach und nach wurde der Orient-Express durch gewöhnliche Züge ersetzt und das Streckennetz ausgedünnt. Im Mai 1977 war letztmals ein planmäßiger Orient-Express auf der Strecke Paris – Istanbul in Betrieb. Doch noch heute werden Sonderfahrten in restaurierten Orient-Express-Zügen als „special events“ angeboten, die sich bei Eisenbahnfans großer Beliebtheit erfreuen. Sie versuchen, dem Glanz und dem Zauber des stilvollen Reisens im berühmtesten Zug der Welt nachzuspüren. Angesichts eines Massentourismus, der an seine Wachstumsgrenzen stößt, scheint die Faszination, die von der der Geschichte des Orient-Express ausgeht, umso größer zu sein je länger sie zurückliegt.
Reisen damals-Tipp: Vielleicht einmal im Leben …
In Europa und auf anderen Kontinenten wurden bzw. werden Reisen in Luxuszügen auch mit dem Zusatz Orient- oder Oriental-Express angeboten, obwohl sie mit dem Orient-Express des vergangenen Jahrhunderts nicht viel zu tun haben. Gleichwohl bieten diese Reisen einen Komfort und Service, der sogar über dem Niveau des historischen Orient Express liegen kann. So führen die Züge neben Schlaf- und Speisewagen meist noch Salon-, Pianobar- und Aussichtswagen mit sich und bieten exquisite Rund-um-Verpflegung. Beispiele sind der in den USA allerdings 2008 eingestellte American Orient Express, der in Südostasien zwischen Bangkok und Singapur verkehrende Eastern and Oriental Express, der indische Royal Orient Express oder der Pride of Africa im südlichen Afrika. Wer sich diesen Luxus leisten will, muss allerdings eine Menge Geld in die Hand nehmen.
Bildquellen
- 48Orient2: Wikimedia Commons | Public Domain Mark 1.0
- 48Orient3: Wikimedia Commons | CC BY-SA 3.0 Unported
- 48Orient4: Martin Dürrschnabe derivative work: Dha (Diskussion) via Wikimedia Commons | CC BY-SA 2.5 Generic
- 48Orient5: J. Barreau & Cie. via Wikimedia Commons | Public Domain Mark 1.0
- 48Orient6: Joseph de La Nézière via Wikimedia Commons | Public Domain Mark 1.0
- 48Orient7: WLDiffusion via Wikimedia Commons | CC BY-SA 4.0 International
- 48Orient1: Wikimedia Commons | Public Domain Mark 1.0