Selbst in der abgeschotteten DDR gelang es Hunderten von Rucksacktouristen, ihren Traum von Freiheit und Abenteuern zu verwirklichen. Nicht in der ganzen, aber zumindest in einem großen Teil der Erde – im riesigen sowjetischen Imperium, das sich über elf Zeitzonen erstreckte. Am Schwarzen Meer, am Polarkreis, in Zentralasien oder im Fernen Osten entdeckten wagemutige junge Frauen und Männer eine fremde, exotische Welt, die so ganz anders war als ihre durchregulierte Heimat. Die Alltagsbegegnungen mit Bergbauern und Goldsuchern, Nomaden und Wildhütern, Jägern, Fischern und den „ganz normalen“ Sowjetbürgern und -bürgerinnen zeigten ihnen, wie vielfältig und bunt die Welt ist. Und dass Gastfreundschaft gerade dort anzutreffen ist, wo Menschen selbst kaum etwas zum Verschenken haben. Erstaunlich, dass dieses Kapitel der Tourismusgeschichte der DDR weitgehend unbekannt geblieben ist, zeigt es doch, dass ein echter Globetrotter sich weder von inneren noch äußeren Grenzen aufhalten lässt.
Individualtouristen ohne Aufpasser durften nicht einfach so in der Sowjetunion umherreisen. Das war nur mit einem illegalen Trick möglich: Wer ab 1968 nach Rumänien oder Bulgarien wollte, musste nicht über die Tschechoslowakei und Ungarn fahren, sondern konnte mit einem Transitvisum auch den Weg über Polen und die UDSSR wählen. Für die Durchreise hatte man zwei bis drei Tage Zeit. War man erst einmal in der Sowjetunion, konnte das Abenteuer beginnen. Die sowjetischen Grenzorgane kümmerten sich in der Regel nicht darum, ob man ihr Land fristgerecht wieder verlassen würde. Und bei der Rückkehr in die DDR drohten keine ernsthaften Strafen; man war ja schließlich ins heimatliche Arbeiter- und Bauernparadies zurückgekehrt. Vermutlich ließ die DDR-Regierung den Transit über die Sowjetunion nur zu, um die Tschechoslowakei in den unruhigen 1968er Zeiten des „Prager Frühlings“ von der DDR abzuschotten. Und danach vergaß man wohl, diese Regelung wieder aufzuheben.
Wie lange die Alternativtouristen in der Sowjetunion blieben, hing von ihrem persönlichen Zeitbudget ab. Studenten konnten die zwei Monate Sommerferien nutzen, andere kündigten ihren Job und nahmen sich eine längere Auszeit. Viele kannten sich untereinander und versorgten sich gegenseitig mit Tipps und Trekkingmaterial, es gab aber verständlicherweise keine feste Organisationsstruktur. Im Laufe der Zeit etablierten sich aber unter Insidern als Erkennungsmerkmal drei Buchstaben: UdF.
UdF: „Unerkannt durch Freundesland“
Hatte man alle Dokumente zusammen, was nicht immer ganz einfach war, konnte die Rucksackreisenden nichts mehr aufhalten. Den DDR-Grenzern machte man zum Beispiel weis, dass man mit dem Zug über Kiew nach Odessa reisen wolle, um dort das Schiff übers Schwarze Meer zum bulgarischen Seebad Varna zu nehmen. Die schluckten das und ahnten nicht, dass schon in Kiew die illegale Expedition durch die Republiken des Sowjetreichs starten würde. Per Bahn und Anhalter ging es bis in die entlegensten Winkel, wo nur die Natur und nicht der Sozialismus das Leben bestimmte. Auf der Hut sein musste man allerdings vor KGB und Miliz, doch die ließen sich meist mit selbstverfassten Fantasiedokumenten (wichtig war ein Stempel) beruhigen und waren froh, die merkwürdigen Besucher aus der DDR schnell loszuwerden. Nicht selten halfen sogar Polizisten, Trucker und einmal sogar ein Hubschrauberpilot den Backpackern auf ihrer Reise weiter.
So gelangten die jungen Leute in die russischen Polargebiete, nach Murmansk auf der Halbinsel Kola, auf die Krim, zu den Vulkanen Kamtschatkas, in die Berge des Kaukasus und des zentralasiatischen Tian Shans, nach Turkestan, Taschkent und Samarkand, ans Japanische Meer, zu den „Goldenen Bergen“ des Altais im chinesischen Grenzgebiet, zum Baikalsee, zu den Siebentausendern des Pamir und, und, und … grandiose Landschaften, die sie mit Zelt und Schlafsack durchwanderten.
Ein Zuckerschlecken waren die Reisen nicht gerade. Tagelange Zugfahrten in Abteilen mit Hühnern, pausenlos rauchenden Einheimischen, Bergen von Gepäck und nicht funktionierenden Toiletten, der ständige Geldmangel und leere Lebensmittelgeschäfte, mehrtägige Übernachtungen auf Flughäfen oder Bahnhöfen, Hitze und Kälte, Hunger und Durst setzten den Rucksacktouristen gehörig zu, aber immer wieder wurde ihnen weitergeholfen. Wenn auch manchmal nur mit einem großen Schluck aus der Wodkaflasche.
Zurück in Ostdeutschland genossen die Backpacker die Bewunderung und das ungläubige Staunen von Freunden und Bekannten über ihre Erlebnisse. Während für die meisten DDR-Bürger die weite Reisewelt in Oberwiesenthal, in Zingst oder bestenfalls am Balaton oder in Varna endete, hatten die „illegalen“ schon den Geschmack der Freiheit gespürt. Das war, bevor im Herbst 1989 die Bevölkerung auf die Straßen ging, um Reisefreiheit („Visafrei bis Hawaii“) einzufordern.
Reisen damals-Lesetipp: Frank Böttcher und Cornelia Klauß (Hrsg.): Unerkannt durch Freundesland.
In dem mit vielen privaten Fotos bebilderten Sammelband beschreiben neunzehn DDR-Rucksacktouristen ihre Abenteuer, die sie im sozialistischen „Bruderland“ erlebt haben. Der Mitherausgeber Frank Böttcher gehörte selbst zu dieser wagemutigen UdF-Subkultur. Das spannend zu lesende Buch mit seinen skurrilen und amüsanten Geschichten sollte in keinem Bücherregal von leidenschaftlichen Globetrottern und Couch-Weltenbummlern fehlen.
Frank Böttcher/Cornelia Klauß (Hrsg.): Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich. Lukas- Verlag, Berlin 2011. 444 Seiten, € 24,90
Bildquellen
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- Backpacker3: Daniel Läubli via Wikimedia Commons | CC BY 3.0 Unported
- Backpacker4: Thomas Taylor Hammond (1920-1993) via Wikimedia Commons | CC BY 4.0 International
- Backpacker5: B_Aichner via Wikimedia Commons | CC BY-SA 4.0 International
- Backpacker6: Andrzej Barabasz (Chepry) via Wikimedia Commons | CC BY-SA 3.0 Unported
- Backpacker7: Lukas- Verlag, Berlin 2011 | All Rights Reserved
- Backpacker1: Jaan Künnap via Wikimedia Commons | CC BY-SA 4.0 International