Schwarz-Weiß-Porträt eines Mannes mit Brille und Schnurrbart, der eine dicke Jacke und eine Pelzmütze trägt.

Sven Hedins Reise zum „Mittelpunkt der Welt“

Als Junge träumte Sven Hedin (1865 – 1952) davon, einmal die letzten weißen Flecken auf dem Globus zu bereisen. Ein Entdecker wie die von ihm bewunderten berühmten Afrika- und Polarforscher wollte er werden. Und er machte seinen Traum wahr. Die nahezu unübersehbare wissenschaftliche Ausbeute seiner Expeditionen durch weitgehend unbekannte Gebiete im westlichen China, in der Mongolei und in Tibet brachten ihm Ruhm und Ehre ein. Seine Reisebücher und immer ausgebuchten Vortragsveranstaltungen machten ihn weltweit zu einem der populärsten Menschen seiner Zeit – doch an seinem Lebensende war er ein geächteter Mann.

Eine Tätigkeit als Hauslehrer, gleich nach dem Abitur, führte ihn für acht Monate nach Baku am Kaspischen Meer. Von dort aus bereiste er den Mittleren Osten, bevor er nach Schweden zurückkehrte.  Nach dem Geographiestudium und dem Erlernen mehrerer Fremdsprachen stand für ihn fest: „Ich will nur noch Pfade gehen, die vor mir noch kein Europäer betreten hat.“

Hedins erste Expedition kostete ihn fast das Leben

Am 16. Oktober 1893, da war er 28, brach er in seiner Heimatstadt Stockholm zu seiner ersten großen Expedition durch Innerasien auf, die drei Jahre dauern sollte. Über Sankt Petersburg fuhr er nach Taschkent. Zusammen mit drei Trägern verließ er das russische Turkestan und durchwanderte das Pamirgebirge. Jetzt wollte er die „Todeswüste Taklamakan“ durchqueren – trotz der Warnungen der Einheimischen, die davon überzeugt waren, dass die Wüste von bösen Geistern beherrscht sei. Noch ahnte er nicht, was ihm in den kommenden Wochen bevorstand. Sandstürme und hundert Meter hohe Dünen ließen die Männer die Orientierung verlieren, Hunger und Durst quälten sie. Sie versuchten das Blut eines geschlachteten Schafs zu trinken, doch in der Gluthitze gerann das Blut sofort. Sieben ihrer acht Kamele hatten sie inzwischen verloren. Einer der beiden Begleiter brach im Delirium zusammen, der andere war verschwunden. Hedin stolperte auf der verzweifelten Suche nach Wasser weiter, stieß auf ein Flussbett – doch es war trocken. Im letzten Moment fand er eine Lache, die die Dürre überstanden hatte. „Ich trank und trank und trank. Das Wasser war kalt, kristallklar und süß wie das beste Quellwasser.“

Kaum hatte Sven Hedin sich erholt, stellte er erneut eine Karawane zusammen: vier Begleiter, drei Kamele, zwei Esel. Ziel war das Tarimbecken westlich der Taklamakanwüste. Dort dokumentierte er die Ruinen der antiken Oasenstadt Lop Nur und enträtselte das Geheimnis der „wandernden Seen“. (Die Gewässer bewegten sich durch hin und her pendelnden Sand.) Dann ging es mehrere Monate weiter durch Nord-Tibet nach Peking. Anfang 1897 reiste er über die Mongolei und Russland zurück nach Stockholm. Über zehntausend Kilometer hatte er zurückgelegt, davon 3.350 Kilometer durch unbekanntes Terrain, und eine Unmenge Landkarten, Zeichnungen und geografischer Beschreibungen erstellt.

Weite Dünenlandschaft in einer Wüste mit feinen Sandmustern und sanften Erhebungen unter klarem Himmel.
In der Taklamakan

Expedition Nr. 2 und Nr. 3

Sven Hedin hielt es nicht lange in Europa. Zwei weitere für damalige Verhältnisse extrem waghalsige Expeditionen durch Zentralasien folgten (1899 bis 1902 und 1905 bis 1908).

Schwarz-Weiß-Foto einer Gruppe von Männern in traditioneller Kleidung vor einem Zelt, aufgenommen in einer ländlichen, bergigen Umgebung.
Sven Hedin (Mitte) bei einer seiner Reisen in Tibet, vermutlich 1908

Auf der zweiten Expedition reiste er zum ersten Mal in das fast total abgeschottete Tibet. Als Pilger verkleidet, zog er mit wenigen einheimischen Begleitern über elf Bergketten des Kunlun, um in das für Ausländer streng verbotene Lhasa zu gelangen. Doch kurz vor dem Ziel wurde er von tibetischen Truppen enttarnt und in Richtung Ladakh aus dem Land geleitet.

1905 bis 1908, auf seiner dritten Expedition, erforschte er die Wüsten Persiens und das westliche Hochland Tibets. Er stieß auf eine gewaltige Gebirgskette, die er Transhimalaya nannte. (Später bekam die Kette der über 7.000 Meter hohen Berge ihm zu Ehren den Namen Hedin-Gebirge.)  

Hedin scheute auf diesen Expeditionen keine Gefahr, er schonte weder sich noch seine Gefährten. Mehrmals gerieten sie in Lebensgefahr: Wilde Yaks griffen sie an, und sie wurden von feindseligen Mönchen bedroht. Dem Zugriff der tibetischen Behörden entging Hedin nur durch seine Verkleidung als Hirte. Er stieß auf vergessene Klöster, Ruinen versunkener Städte und Jahrhunderte alte Grabanlagen. In der Wüste des Tarimbeckens entdeckte er Überreste der Chinesischen Mauer.  

Berglandschaft mit schneebedeckten Gipfeln im Hintergrund, ein klarer, türkisfarbener See im Vordergrund und zwei Reiter am Ufer.
Teil der Nyainqêntanglha-Kette im Transhimalaya (Hedin-Gebirge)

Als erster Europäer besuchte er den heiligen Berg Kailash, der nach der hinduistischen und buddhistischen Mythologie der Mittelpunkt der Welt ist. 1906 entdeckte er im Himalaya die Quellen der indischen Flüsse Indus und des Brahmaputra. 1908 kehrte er nach seiner dritten Expedition von Indien aus mit dem Schiff über Japan nach Schweden zurück und wurde in Stockholm in einem Triumphzug gefeiert.

Schneebedeckter Gipfel des Kailash-Berges unter klarem, tiefblauem Himmel.
Der heilige Berg Kailash, der „Mittelpunkt der Welt“

Entdecker, Wissenschaftler und brillanter Erzähler

Sven Hedin gehörte danach zu den weltweit bekanntesten Naturforschern. Er erhielt Einladungen von allen bedeutenden Herrschern und Politikern der Welt. Er wurde unter anderem vom japanischen Kaiser, von US-Präsident Theodore Roosevelt und vom Papst empfangen. Seine populären Bücher wie „Transhimalaya“, „Von Pol zu Pol“ und „Rätsel der Wüste Gobi“ erschienen in 28 Sprachen. Seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen haben einen Umfang von rund 30.000 Seiten mit etwa 2.500 von ihm angefertigten Zeichnungen. Allein der Forschungsbericht über seine dritte Expedition („Southern Tibet“) umfasst zwölf Bände, davon drei Atlanten. Er entwarf die ersten genauen Karten von bis dahin unerforschten Gebieten: Turkestan, Pamir, Taklamakan, Tibet, die chinesische Seidenstraße und Himalaya.

Buchcover von „Southern Tibet“ von Sven Hedin mit einer detaillierten Karte des tibetischen Hochlands.

1923 unternahm Hedin noch eine Reise über die USA und Japan nach Peking. Von dort aus fuhr er, In für ihn ungewohnt bequemer Weise, in einem Dodge-Automobil und der Transsibirischen Eisenbahn nach Moskau und zurück nach Schweden. Ansonsten widmete er sich der wissenschaftlichen Auswertung seiner Aufzeichnungen und dem Schreiben von Büchern. Die Zeit der großen Entdeckungsreisen schien vorbei zu sein; nennenswerte weiße Flecken auf dem Weltatlas gab es nicht mehr. Doch noch einmal stellte er sich einer extremen Herausforderung.

Die Chinesisch-Schwedische Expedition

Mit 62 Jahren war Hedin mit finanzieller Unterstützung durch die deutsche und schwedische Regierung in Zentralasien unterwegs. Diese internationale „Chinesisch-Schwedische Expedition“, die von 1927 bis 1935 dauerte, ging als eine der größten Forschungsreisen unserer Zeit in die Wissenschaftsgeschichte ein. Mit einem Team von 37 Geologen, Geografen, Meteorologen, Archäologen und Botanikern, mit 300 Kamelen und zwei Dutzend mongolischen Zelten brach Hedin im Mai 1927 von Baotou in der Inneren Mongolei auf, um durch die Wüste Gobi nach Urumtschi, der Hauptstadt Sinkiangs zu gelangen. Die Expedition hatte neben den kartografischen, geologischen und archäologischen Aufgaben das Ziel, das Gelände auf geeignete Flugplätze für eine geplante Verbindung Berlin-Peking der Lufthansa zu überprüfen. Die Suche musste jedoch nach einem Jahr ergebnislos abgebrochen werden.

Auf einem Teil der Reise begleitete der erfahrene Kameramann Paul Lieberenz die Karawane. Auf 16.000 Metern Film, die er in einem primitiven Zelt entwickelte, dokumentierte er die Geschichte der Expedition. „Mit Sven Hedin durch Asiens Wüsten“ wurde in Deutschland im Mai 1929 im Berliner Ufa-Palast am Zoo uraufgeführt. Der Film zeigt Tempeltänze in lamaistischen Klöstern, die versunkene Stadt Charachoto, verheerende Sandstürme, Kamelrevolten, Diebesjagden und immer wieder die Forscher bei ihrer Arbeit. Unglücklicherweise war der Film noch ohne Ton und das, als gerade die Zeit des Tonfilms begonnen hatte.

Für die chinesische Regierung hatte Hedin auf dem letzten Teil der siebenjährigen Expedition Möglichkeiten für den Bau von Bewässerungsanlagen und Autostraßen überprüft. Anfang 1935 kehrte Hedin über Xi’an und Peking nach Stockholm zurück.

Das unrühmliche Ende eines großen Forscherlebens

In den folgenden Jahren hielt Hedin in Deutschland und den Nachbarländern über 130 Vorträge. Er bekannte offen seine Sympathie für den Nationalsozialismus und traf sich mehrmals mit Hitler und anderen NS-Größen. Für die Nazis war die Unterstützung ihrer Politik durch den populären Forscher hochwillkommen. Auch der Zweite Weltkrieg änderte nichts an Hedins politischer Einstellung. Hitler verehrte er nach wie vor („eine der größten Gestalten der Weltgeschichte“). Nach dem Krieg lebte Sven Hedin von der Öffentlichkeit weitgehend isoliert in Stockholm; für weite Kreisen war er zu einer Unperson geworden. „Sven Hedin ist ein einsamer, fast vergessener Mann“, schrieb 1949 „Der Spiegel“. Dass er mehrfach zugunsten von deportierten norwegischen und deutschen Juden bei Hitler interveniert hatte und für manche zum Lebensretter wurde, änderte nichts an der Ächtung seiner Person in seinem Heimatland.

Heute wird das wissenschaftliche Lebenswerk des neben Alexander von Humboldts wohl bedeutendsten Entdeckers und Naturforschers des 19. bzw. 20. Jahrhunderts trotz seiner politischen Verblendung anerkannt und bewundert.

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