Sonnenuntergang über Wasser

Joseph Roths Reise mit dem Wolgadampfer zum Kaspischen Meer

Die zweiwöchige Schiffsreise auf der südlichen Wolga von Moskau bis nach Astrachan, unweit der Mündung ins Kaspische Meer, gehört sicher zu den ungewöhnlichsten Flussfahrten, die der Tourismus zu bieten hat – besser gesagt, hatte. Allerdings sollte man sich vor falschen Vorstellungen hüten, war schon 1897 im Baedeker zu lesen: „Großartige Naturschönheiten darf man nicht erwarten; was man auf dem Rhein in wenigen Stunden erblickt, sieht man auf der Wolga nicht in einer Woche.“ Vielleicht ist es aber gerade die beruhigende Monotonie, die den Reiz einer Fahrt auf der Wolga ausmacht.

Unterwegs begegnet man der vielfältigen südrussischen Kultur, besucht die tatarische Metropole Kasan, die ehemalige Region der Wolga-Deutschen in Saratow und das wiedererstandene Wolgograd mit der monumentalen Gedenkstätte auf dem Mamajew-Hügel. Am eindrucksvollsten ist immer wieder die Aussicht vom Kreuzfahrtschiff auf die mächtige Wolga und die unendlichen Landschaften jenseits der Ufer. Wie das Land, so der Mensch? Wenn wehmütige Balalaika-Musik aus dem Salon hinauf aufs Deck klingt und im Champagnerglas der Krimsekt perlt, glaubt wohl jeder an Bord, tief in die russische Seele blicken zu können … Doch seit dem unseligen 24. Februar 2022 ist es für Touristen aus der EU vorerst vorbei mit dem Zauber von „Mütterchen Wolga“. Was bleibt, ist die Erinnerung an Flussfahrten vergangener Zeiten. Zum Beispiel an die Wolgareise des österreichischen Schriftstellers Joseph Roth im Jahr 1926.

Fähren auf einem Fluss
Kreuzfahrtschiffe auf der Wolga (2014)

Joseph Roths Reise, die sein Leben verändern sollte

Mann mit Hut
Joseph Roth in Paris, 1932

Der spätere Autor des Meisterwerks „Radetzkymarsch“ bestieg 1926 in Nischij Nowgorod einen der unzähligen Wolgadampfer und begab sich auf die rund zweitausend Kilometer lange Reise nach Astrachan. An den Luxus und Komfort eines modernen Kreuzfahrtschiffs war damals allerdings nicht zu denken. Aus den Reportagen über seine „Reisen in Russland“, die im gleichen Jahr in der Frankfurter Zeitung erschienen, stammen die folgenden Passagen.

Landkarte Wolgaregion

Der Fluss, so weit wie das Land

„Der Wolga-Dampfer liegt weiß und festlich im Hafen. Er trägt den Namen eines berühmten russischen Revolutionärs und hat vier Klassen für Passagiere. In der ersten fahren die neuen Bürger Russlands, die Geschäftemacher, dem Sommerurlaub in den Kaukasus und in die Krim entgegen. Die vierte Klasse befindet sich tief unten. Ihre Passagiere schleppen schwere Bündel, billige Körbe, Musikinstrumente und ländliche Geräte. Alle Nationen, die an der Wolga und weiter in der Steppe und im Kaukasus wohnen, sind hier vertreten. Hier sind kleine Landarbeiter, arme Handwerker, wandernde Musikanten, blinde Korsaren, fliegende Händler, halbwüchsige Schuhputzer und die obdachlosen Kinder, die von der Luft und vom Unglück leben. Die Menschen schlafen in hölzernen Schubläden, in zwei Etagen übereinander. Sie essen Kürbisse, suchen nach Ungeziefer auf den Köpfen der Kinder, stillen Säuglinge, waschen Windeln, kochen Tee und spielen Balalaika und Mundharmonika.“

Männer mit Fischernetzen
Wolgafischer in Astrachan

„Der Himmel über der Wolga ist nah und flach und mit unbeweglichen Wolken bemalt. Zu beiden Seiten hinter den Ufern sieht man in weiten Fernen jeden emporragenden Baum, jeden aufsteigenden Vogel, jedes weidende Tier. Ein Wald wirkt hier wie ein künstliches Gebilde. Alles hat die Tendenz, sich auszubreiten und zu zerstreuen. Dörfer, Städte und Völker sind weit voneinander entfernt. Gehöfte, Hütten, Zelte wandernder Menschen stehen da, umgeben von Einsamkeit. Diese Erde gibt das Gefühl der Freiheit, wie bei uns nur das Wasser und die Luft.“

Männer am Flussufer
Wolgaufer in Nishnij Nowgorod

„Der Fluss ist wie das Land: breit, unendlich lang (von Nischnij-Nowgorod bis Astrachan sind es mehr als zweitausend Kilometer) und sehr langsam. An seinen Ufern erwachsen erst spät die ‚Wolga-Hügel‘, niedrige Würfel. Ihr nacktes felsiges Innere haben sie dem Fluss zugekehrt. Hinter ihnen dehnt sich wieder die Fläche, vor der die Horizonte zurückweichen, immer weiter, bis hinter die Steppe. Ihren großen Atem schickt sie über die Hügel, über den Fluss. Im Anblick der großen Berge und der uferlosen Meere fühlt man sich verloren und bedroht. Gegenüber der weiten Ebene ist der Mensch verloren, aber getröstet. Er ist nichts mehr als ein Halm, aber er wird nicht untergehen: Man ist wie ein Kind, das in der ersten Stunde eines Sommermorgens erwacht, wenn alle noch schlafen. Man ist verloren und geborgen zugleich in der unbegrenzten Stille. Wenn eine Fliege summt, ein gedämpfter Pendelschlag tönt, liegt in diesen Geräuschen dieselbe tröstliche, weil überirdische und zeitlose Trauer einer weiten Ebene … Wir halten vor Dörfern, deren Häuser aus Holz sind und aus Lehm, mit Schindeln und mit Stroh gedeckt. Manchmal ruht die breite Kuppel einer Kirche in der Mitte der Hütten.“

Nach Roths Rückkehr von seiner Reise in die Ukraine und nach Russland ist der überzeugte Sozialist von der Lebenswirklichkeit in der Sowjetunion desillusioniert. Nicht aber von seinen Bürgern: „Ich bin noch in keinem Lande von fremden Menschen so selbstverständlich, so freimütig eingeladen worden.“

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung emigriert Joseph Roth nach Paris. Von persönlichen Schicksalsschlägen und lebenslangem starkem Alkoholkonsum gezeichnet, stirbt er am 27. Mai 1939 im Alter von 45 Jahren in einem Pariser Armenhospital.

Reisen damals-Lesetipp: Joseph Roth, „Reisen in die Ukraine und nach Russland“. Herausgegeben von Jan Bürger 
Auf seinen Expeditionen nach Kiew, Moskau und Odessa, nach Lemberg, Baku oder Astrachan taucht der Schriftsteller und Journalist Joseph Roth in den vielgestaltigen Kosmos des östlichen Europas ein. Seine Berichte und Essays aus den1920er Jahren sind bewegende Zeugnisse von großer Aktualität. (136 Seiten, 14,95 €. Verlag C.H. Beck, München 2015/2022)
Buchcover Reisen in die Ukraine
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